Ich habe noch 13 Tage auf Bali, den Abreisetag nicht mitgerechnet.
Für andere ist das ein ganzer Urlaub, aber für mich fühlt es sich so an, als ob ich heute Nachmittag heimfliegen müsste.
Verdammt.
In mir wohnt eine reisende Seele, also nicht nur im spirituellen Sinne, sondern auch im ganz praktischen: Wenn ich mal weg bin, will ich selten wieder nach Hause. Leider war ich noch nie lang genug unterwegs, um herauszufinden, ob sich das irgendwann auch ins Gegenteil verkehrt, ob ich dem Gefühl der Freiheit, des Ungeplanten, des Indentaglebens irgendwann überdrüssig werde. Und mich wieder nach der Stabilität eines geordneten Alltags sehne.
Aber das ist nicht das eigentliche Problem.
Das eigentliche Problem ist, dass ich hier auf meiner Terrasse inmitten eines Reisfelds hocke. Vor mir eine Tasse dampfender, pervers süßer und leckerer Karamell-Instant-Kaffee. Die Sonne geht grade auf, kleine Vögel hüpfen zwischen den noch taufeuchten und sich im sanften Wind wiegenden Reispflanzen hin und her.
Grillen sirren, Frösche quaken, Tauben gurren.
Im Hintergrund das sonore Brummen der unzähligen Mofas eines erwachenden Ubuds. Kurz, es ist alles so fucking romantisch und perfekt UND ICH KANN AN NICHTS ANDERES DENKEN KANN ALS DASS ICH IN EINER WOCHE WIEDER HEIM MUSS! Verdammt.
Wenn ich’s mir recht überlege, hatte ich das „Problem“ schon seit Anbeginn dieser Reise, eigentlich schon davor. Ich hatte mir ausgemalt wie es wohl wäre, wenn, sagen mir mal, die Halbzeit erreicht wäre, wie ich mich fühlen würde, wie wertvoll die Tage würden, wie ich mich konzentrieren müsste um jede Minute wertzuschätzen und im Hier und Jetzt zu bleiben.
Dass mich dieses Problem arg beschäftigt hab ich ja schon im vorletzten Eintrag dieses unregelmäßiger als geplant erscheinenden Reise“tage“buchs deutlich gemacht.
Der mit dem Sitz’n und Schaun™, Ihr wisst schon.
Und nun ist es ja auch nicht so, dass Lydi und ich die Zeit hier nicht zu füllen wüssten, ganz im Gegenteil, im Rückblick haben wir bereits unzählige wunderbare Dinge erlebt und Begegnungen gehabt. Aber ich habe bisher jede (längere) Reise (ungewollt) mit einer Herausforderung angetreten und dieses Mal ist es offensichtlich meine Unfähigkeit, einen Moment zu genießen und voll auszukosten.
Aber für sowas kann man sich ja Hilfe holen.
Und die kam, völlig ungeplant und unforciert durch einen dieser verqueren Umwege des Universums, bei denen ich mir immer vorstelle, wie das Universum sich den Bauch vor Lachen hält und sich selbst auf die Schulter klopft ob seines gelungenen Coups.
Ich für meinen Teil kann da meist immer erst hinterher drüber lachen. Bin aber ja auch kein Universum mit einem verschrobenen Sinn für Humor.
Aber der Reihe nach.
Auf meiner letzten großen Reise, die mich fast ein halbes Jahr mit dem Rucksack durch Südostasien geführt hat, war die Unterkunftssuche für mich immer eher so ein nebensächliches Dingens. Ich war bereits zufrieden wenn ich ein Dach über dem Kopf hatte. Im Idealfall für nicht mehr als fünfzehn Euro pro Nacht. Und fein war, wenn sich die Kakerlaken tagsüber UNTERM Bett versteckt haben.
Dass es eine völlig andere Art des Reisens werden könnte, mit einer Frau zusammen unterwegs zu sein, ohne Rucksack, dafür mit Koffern und gewissen Grundansprüchen (keine Ameisen in Bad und Bett, keine Algen im Pool, keine Baustelle nebenan etc.) an eine Bleibe, das hat mich etwas kalt erwischt. Es hat ein paar Tage gedauert bis ich realisiert habe, dass ich eben kein abgerissener Backpacker mit dreißig Euro Tagesbudget mehr bin, sondern dieses Jahr vierzig werde und ebenfalls eine leise Klimaanlage und saubere Laken zu schätzen weiß.
Der Backpacker ist mir aber scheinbar nicht so leicht auszutreiben und so sind Lydis und meine Ansprüche anfangs immer mal wieder kollidiert. Während sich jener Rucksacktourist in mir regelrecht wand, satte fünfzig Euro für ein Viersternehotel mit eigener Villa, Garten und Privatpool zu bezahlen, befand sich genau hier aber die Untergrenze meiner Herzdame von Vorstellung eines Urlaubs.
Spannend.
Dazu kommt, dass in Zeiten von Photoshop und professionellen Werbetextern die Beschreibungen der balinesischen Hotel- und Ressortvermittler immer kreativer ausfallen und die Realität meist ähnlich beugen, wie die Yogabiene aus meinem vorherigen Beitrag ihre Reise-Selfies.
Gepriesen seist Du, oh HDR-Filter und Weitwinkelobjektiv.
Wo immer es also ging, habe ich mir unsere Unterkünfte vorher persönlich angesehen um mich davon zu überzeugen, ob die in den schillerndsten Farben beschriebenen Urlaubsparadiese auf Booking.com, Airbnb und Co. einen spontanen Überraschungsbesuch standhielten.
Nur einmal konnte ich diese durchaus spießige, aber meinem Alter und meinen Nerven geschuldeten Vorsichtsmaßnahme nicht durchführen, nämlich als wir vor kurzem von Ubud nach Uluwatu umgezogen sind.
Also aus dem Dschungel an den Strand.
Da haben wir uns bei der Unterkunftswahl auf unser Glück und auf die Beschreibung auf Airbnb verlassen und sowas liebt das Universum, um seine kleinen Spielchen zu spielen.
Es hätte mich schon misstrauisch machen sollen, dass unser Gastgeber gar nicht erst aufgetaucht ist, weder zum vereinbarten Zeitpunkt, noch irgendwann später an unserem Ankunftstag (und Spoiler: auch nicht am Folge- und Abreisetag). Stattdessen zeigte uns eine verplante junge Balinesin, vermutlich eine Angestellte des Gastgebers, wir haben das nie endgültig herausgefunden, unser Zimmer, und ich schreibe bewusst „Zimmer“, denn mit der bei Airbnb in blumigen Worten beschriebenen „Villa im Garten“ hatte die Bude mal so rein gar nichts zu tun. Bemerkenswert fand ich auch die völlig eingesaute, offene Küche, die die Terrasse zwischen unserem und dem Nachbarzimmer einnahm. Dort hatte sich ein abgerissenes Pärchen aus Litauen seit ein paar Monaten eingenistet, war wenig erfreut von der Aussicht, den Platz jetzt eine Woche lang mit uns zu teilen und empfing uns entsprechend frostig. Die Spinnen-Armada und umher huschenden Kakerlaken im Zimmer selbst waren da dann nur noch die Kirsche auf der Torte. Der Stressschweiß quoll mir mittlerweile literweise aus den Poren, in den Pool wollte ich aber auch nicht hüpfen, denn obwohl der bis in unser Badezimmer hinein nach Chlor duftete, war das Wasser undurchsichtig grün, was vermutlich an den zahlreichen Algen gelegen haben dürfte.
Meine Herzdame verkündete natürlich sofort, dass sie hier nicht eine Nacht bleiben würde.
N i c h t e i n e e i n z i g e.
Der Backpacker in mir wog tatsächlich kurz das Preisleistungsverhältnis ab und kam zum durchaus erwartbaren Schluss, dass das doch alles halb so schlimm wäre und man schon in viel ärgeren Buden genächtigt hätte. Das Gesicht der Herzdame holte mich dann aber schnell wieder ins Hier und Jetzt und ich machte mich an die Organisation einer Ersatzunterkunft.
Dafür brauchte ich aber einen Motorroller.
Und da unser Gastgeber ja nicht auffindbar und auch telefonisch nicht erreichbar war, mussten wir raus auf die Straße und uns selber drum kümmern.
Nun ist Uluwatu aber nicht Ubud, wo Dir gefühlt alle 5 Meter jemand einen Roller hinterherwirft und streng genommen waren wir auch gar nicht in Uluwatu, sondern ein paar Kilometer zu weit im Osten der Bukit-Halbinsel gelandet. Weil ich mich mit den Entfernungen vertan hatte.
Uluwatu ist auf Touristen eingestellt.
Das kleine Dorf in Fußweite unserer Unterkunft, dessen Namen ich nicht mal mittels Google Maps herausfinden konnte, ist es nicht.
Nach einem halbstündigen, erfolglosen Fußmarsch in brütender Nachmittagshitze wechsle ich die Strategie. An einer kleinen Werkstatt am Straßenrand spreche ich ein paar Jungs an, die an einem Moped herum schrauben und ihr Englisch reicht gottseindank aus um unsere Anliegen zu verstehen. Mit Händen und Füßen vermitteln sie uns, dass wir mit einem Knaben, dessen Vater angeblich Mofas verleihe, mitfahren sollen.
Also zu dritt auf einem Moped.
An ein ungewisses Ziel.
Ich versuche, möglichst wenig zu zögern um Lydi, die grad sehr skeptisch dreinschaut, in Sicherheit zu wiegen, dann geben wir uns einen Ruck und los geht die Fahrt. Am Ende dauert sie nur kurze fünf Minuten und endet an einem kleinen Haus mit Warung (also einer balinesischen Garküche), aber ich bin froh, dass wir uns nicht für den Fußmarsch entschieden haben, denn der hätte uns beträchtlich mehr Zeit in sengender Hitze gekostet. Schweißgebadet bin ich trotzdem schon wieder.
Aber das Universum mag derartige Hingabe und bringt uns ab sofort wieder auf Kurs. Der Vater des Jünglings heißt Ketut und erweist sich als überaus zuvorkommender Balinese Mitte Fünfzig, mit wallenden, weißen Haaren und gütigen Augen. Außerdem spricht er fließend Englisch. Wir handeln einen guten Preis für das Motorrad aus und engagieren Ketut auch gleich noch, uns (bzw. unser Gepäck) am nächsten Morgen in unsere neue Bleibe zu fahren. Denn eine Nacht müssen wir im Horror-Hostel verbringen, da führt jetzt ob der fortgeschrittenen Zeit kein Weg dran vorbei.
Aber auch diese Nacht geht vorbei und am nächsten Morgen ziehen wir in ein kuscheliges kleines Ressort im Herzen des Surfer-Hotspots um Uluwatu, Padang Padang und Bingin Beach um.
Die Region hat sich seit meinem allerersten Besuch 2014 ziemlich verändert. Damals gab es gefühlt zwei Hotspots für Touris, das eine war der Cashew Tree, das andere das Single Fin und dazwischen erstreckten sich schöne, (mit Ausnahme von Bingin Beach und Dreamland) relativ leere und unberührte Strände.
Heute ist der einstmals zumindest in meiner Erinnerung unbebaute Thomas Beach mit kleinen Hütten gesäumt, aus denen Einheimische Strandliegen vermieten und Kokosnüsse verkaufen, Padang Padang ist ein Touri-Magnet und über das, was da am Pandawa Beach, diesen auf muslimische Touris aus Java spezialisierten Vergnügungspark zwischen Hotelgerippen abgeht, breiten wir am besten mal den Mantel des Schweigens aus.
Nein, die Schönheit der Uluwatu-Region erschließt sich einem nicht auf den ersten Blick. Man muss ein wenig suchen, sich am Besten einen Roller mieten und einfach losfahren. Und dafür wird man dann auch belohnt. Auch hier gibt es noch relativ unberührte und einsame Strände oder Strandabschnitte, an denen sich herrlich ganze Tage bei Meeresrauschen und Sand im Getriebe verbummeln lassen. Und das beste ist auch hier das Essen. Es sind so viele neue, leckere, stylische, hippe, gemütliche Cafes, Restaurants und Bars dazugekommen, dass es jedesmal fast schon eine Qual war, sich für eine Location zu entscheiden. In Uluwatu (ich beschreibe ab jetzt der Einfachheit halber den ganzen südwestlichen Zipfel der Bukit-Halbinsel so) ist alles ein bisschen weniger laut und hektisch als beispielsweise in Ubud oder Canggu. Statt gertenschlanker Elfen in hautengen Yogahosen gibt’s hier drahtige Surfer-Dudes, alles ist gefühlt etwas zäher, schwüler und entspannter.
Ganz gut zum Runterkommen.
Nur nicht für mich.
In mir rumort es.
Ich kann meine Birne einfach nicht ausschalten.
Da hilft kein noch so einlullendes Meeresrauschen, kein kitsch-triefender Sonnenuntergang, keine morgendliche Yogasession im Palmengarten.
Irgendwie scheint es mich wieder ins Jahr 2016 katapultiert zu haben, zurück in den Körper des ewig suchenden und nirgends ankommenden Andis, der verzweifelt von Guru zu Guru gerannt ist und einfach nicht wahrhaben wollte, dass er alle Antworten schon längst in sich hatte.
Statt am Strand zu chillen, cruise ich ziellos mit dem Mofa auf der Halbinsel herum. Unschlüssig, was ich eigentlich suche und finde damit natürlich erst recht nichts.
Dann kommt Lydi, die sich das Elend nicht mehr länger anschauen mag, eine Idee.
„Lass uns Ketut fragen, ob er Rat weiß“ schlägt sie vor. Auf der Fahrt zwischen unserer alten und neuen Bleibe hatten sie und Ketut ein intensives Gespräch über Yoga und Meditation, während ich von all dem nichts mitbekommend mit dem Roller hinter dem Auto hergefahren bin. „Ketut hat etwas über seinen Lehrer, einen einheimischen Heiler erzählt“ fährt sie fort.
Gesagt, getan.
Wir rufen Ketut an und schildern ihm den Sachverhalt (Andi’s lost, needs fresh guidance etc.) und er schlägt sofort vor, uns einen Termin bei seinem Lehrer, der auf den Namen Wayan Seder hört, zu vereinbaren.
Und uns zum Dolmetschen zu begleiten.
Ich spüre bereits wieder das schallende Lachen des Universums, wie es sich diebisch freut, dass sich unser vermeintlicher Irrweg grade in eine Gelegenheit verwandelt. Denn ohne das Horror-Hostel und die damit verbundene Roller-Suche wären wir ja niemals auf Ketut gestoßen. Ich verstehe zwar nach wie vor nicht, warum Ketut uns nicht einfach beim Eisessen über den Weg laufen konnte, aber hey, wer bin ich denn um die Wege des Universums in Frage zu stellen?
Ketut hat einen Termin für Sonntagmorgen vereinbart. Wir treffen ihn an einem großen Supermarkt und fahren dann gemeinsam nach Jimbaran, wo der Heiler inmitten einer ziemlich gewöhnlich aussehenden Siedlung in einem ziemlich gewöhnlich aussehenden Haus wohnt. Zumindest, wenn in der eigenen Vorstellung eine Höhle am Strand oder ein Verschlag im Dschungel die viel passendere Location für ein Treffen mit einem echten balinesischen Heiler gewesen wäre. Aber Wayan Seder ist keine Touristenattraktion und schert sich offenkundig auch nicht um den ganzen Hokuspokus, den seine Kollegen in der Tourismusbranche gerne für ihre Klienten veranstalten. Er empfängt seine Patienten im Innenhof seines Hauses auf dem weiß gekachelten Fußboden. Während hinter ihm die Frauen der Mehrgenerationen-Familie kochen und kleine Kinder herumtollen. Wayan Seders Alter ist schwer zu schätzen. Vielleicht Ende siebzig. Seine Brille lässt ihn weise wirken, sein Lächeln ist sympathisch. Ich mag ihn sofort, er wirkt auf mich wie ein netter, balinesischer Opa. Aber ich spüre auch sofort seine kraftvolle Aura. Lydi und ich müssen uns vor ihn auf den Boden setzen, Wayan Seder nimmt uns gegenüber Platz. Die Anamnese fällt wortlos aus. Ich weiß nicht, was Ketut dem Heiler im Vorfeld über uns gesteckt hat, aber sicherlich kann er nichts von Lydis bohrenden Kopf- und Nackenschmerzen gewusst haben, denn davon haben wir ihm nichts erzählt. Mehr noch, Wayan Seder kann sie sogar ziemlich genau lokalisieren, indem er mit dem Finger über Lydis Rücken fährt und plötzlich eine Gänsehaut am ganzen Arm bekommt, als er an der richtigen Stelle angelangt ist. Mein Erstaunen ist nicht ganz so groß wie man das jetzt als Leser an dieser Stelle erwarten könnte, denn ich habe ähnliches bereits bei den Hexen und Heilern auf der philippinischen Insel Siquijor erlebt. Aber es ist eine schöne erste Bestätigung, dass Wayan Seder tatsächlich was auf dem Kasten hat. Ich möchte an dieser Stelle nicht vorwegnehmen, was der Heiler dann mit Lydi gemacht hat, vielleicht will sie ihre Geschichte ja selber irgendwann mal erzählen. Ich spoilere nur so viel: es hat etwas mit einem „bad spirit“ und dessen Austreibung zu tun…
Bei mir hingegen stellt Wayan Seder, wie er mir mittels Ketuts Übersetzung mitteilt, völlig verrammelte Chakren fest. Also diese (mindestens) sieben Energiezentren im menschlichen Körper. Er tut dies ebenfalls über die Arm-Gänsehaut-Methode, die, wie wir jetzt erfahren, ein Messmethode für Energiefluss ist (denkt dran wenn Euch das nächste Mal „ein Schauer“ über den Rücken läuft…).
Und bei mir fließt da grad gar nichts. Der Heiler demonstriert das, indem er abwechselnd bestimmte Energiepunkte auf meiner Handfläche und anschließend auf der seines Schülers Ketut berührt.
Bei Ketut: Gänsehaut all over.
Bei Andi: nix.
Na toll. Die ganze Mühe von damals im Schweigekloster auf Sri Lanka also vergebens. Alles wieder verstopft im energetischen Getriebe.
Wayan Seder bietet uns an, unsere Chakren (meine Herzdame lässt sich die Gelegenheit natürlich auch nicht entgehen) für uns zu öffnen, dafür müssten wir aber am nächsten Morgen wieder kommen, denn zum einen sei es jetzt schon zu spät, die Sonne stünde zu hoch, zum anderen müsse Wayan Seder noch ein geeignetes Opfer vorbereiten, um Götter und Geister gnädig zu stimmen.
Der ewig misstrauische Anteil in mir vermutete spätestens hier einen potentiellen Nepp, diese Gedanken verfliegen aber schnell wieder, denn zum einen will unser Heiler kein Geld für seine Dienste, sondern nur eine Spende, deren Höhe dank Ketuts Input sehr moderat ausfällt, zum anderen ist die Opferei tatsächlich fester Bestandteil der balinesischen (Glaubens-)Kultur. Es gibt eine eigene Industrie, deren Handwerker ausschließlich vorgefertigte Opfergaben in allen Formen und Größen produzieren, vom kleinen Körbchen aus Bananenblättern bis hin zu riesigen, kunstvollen Gebilden aus Stroh und Palmfasern, meist in Kronenform, ist da alles dabei. Diese Basiswerkzeuge werden dann von den Balinesen mit weiteren Opfergaben wie Früchten, Reis, Geld, Räucherstäbchen, aber auch mal einer Kippe, ergänzt und auf einen der unzähligen Altären platziert, die sich meistens in Tempeln jeder Größe, aber auch mal unter Bäumen, auf Brücken oder mitten auf einer vielbefahrenen Kreuzung befinden. Damit werden dann täglich alle möglichen Geister und Götter gnädig gestimmt. Für mich sieht es immer so aus als wären diese Gaben von jenem Moment, an dem sie platziert und mittels kurzem Gebet übergeben werden, vergessen. Dann kommen Vögel, Affen und Ameisen und laben sich an den Opfergaben. Und auf den Wegen und Straßen werden die Dinger dann einfach achtlos zertrampelt oder überfahren. Immerhin ist das Zeug zu neunzig Prozent biologisch abbaubar.
Die Opfergabe, die Wayan Seder uns am nächsten und sehr frühen Morgen präsentiert, ist ein enormes Konstrukt. Ein riesiger Korb voll mit Krönchen und Körbchen, die wiederum alle mit Früchten und Bonbons gefüllt sind. Gespickt ist die seltsame Torte mit unzähligen Räucherstäbchen.
Offenbar erwartet der Heiler viel Gegenwehr bei der Öffnung unserer Chakren. Der eigentliche Ablauf der Chakra-Öffnung läuft dann auch wieder verhältnismäßig unspektakulär ab. Zumindest gemessen an den Standards verwöhnter Esoterik-Touristen, zu denen ich mich insgeheim ja auch zähle. Ich weiß eine gute Show durchaus zu schätzen. Die Yogabarns, Alchemys und Pyramids of Chi auf Bali wissen genau, wie sie dieses Narrativ bedienen. Wie man Feuerdrachen channelt, nachdem man rohen Kakao getrunken hat. Sich zu treibender Musik in Ekstase tanzt. Und bei Räucherwerk, das sich grad noch so an der Grenze der Legalität befindet, in kerzenerleuchteten, mit bunten Tüchern verhangenen Yogaräumen ins Nirwana meditiert.
All das schert Wayan Seder nicht. Er setzt uns einfach, zuerst Lydi, dann mich, in einen kleinen Raum, der kaum Platz für einen einzigen Menschen bietet und mehr an ein schmutziges Badezimmer denn an einen Tempel erinnert, vor die rauchende Opfergabe und beginnt, bestimmte Punkte an unseren Körpern abzutasten. Während er immer wieder einen durchdringenden Gong schlägt.
Und ab hier wird es wirklich schwer zu beschreiben, was dabei mit mir geschehen ist. Es gibt Dinge, da muss der Verstand einfach außen vor bleiben. Nicht etwa, weil er die ganze Zeit dazwischenfunkt, „Hokuspokus“ und „so ein Schmarrn“ ruft. Das tut er sowieso. Nein, er muss aussen vor bleiben weil er manches einfach nicht erfassen kann, selbst wenn er wollte. Weil ich für meinen Teil zum Beispiel ganz anders konditioniert wurde. Evidenzbasiert. Wissenschaftshörig. Einer Art technischen Vernunft folgend. Es existiert nur was ich fühlen, riechen und schmecken kann. Und was messbar ist. Auch nach fünfzehn Jahren Beschäftigung mit Spiritualität, Transzendenz und Übernatürlichem funkt mir mein Verstand immer noch dazwischen. Vor allem dann, wenn die „Show“ vermeintlich nicht stimmt, das Brimborium drumherum, das ihn sonst meist erfolgreich ablenkt, während die Seele sich dem eigentlichen Kern des gerade stattfindenden Prozesses widmen kann.
Wayan Seder pfeift aber auf die Show. Er hat sie nicht nötig. Weil seine Patienten in der selben Matrix leben wie er, einer, in der es ganz selbstverständlich ist, dass sich in einen durch Meditation geleerten Geist ohne entsprechende Schutzvorkehrungen niedere Energien, „bad spirits“ einnisten, die sich davon erhoffen, zusammen mit den bei der Meditation produzierten höheren Energien mit nach oben gezogen zu werden. Oder dass Chakren sich schließen können wie schlecht gewartete Wasserventile und dass dann der Energiefluss im Körper nahezu vollständig zum Erliegen kommt. Und dass man sich eben göttlichen Beistand holen kann um zu richten was zerbrochen und zu öffnen was verstopft ist.
Wer bin ich denn schon, dass ich all das mit meinem ach so fortschrittlichen Verstand in Frage stellen darf, der sich einbildet, die einzig wahre Wahrheit gepachtet zu haben, in Wirklichkeit aber nur einen winzigen Ausschnitt des kompletten Kaleidoskops gesehen hat?
Genau.
Und deshalb darf sich mein Verstand ruhig winden und sich lustig machen und toben, ich höre einfach nicht auf ihn. Stattdessen weine ich unkontrolliert wie ein kleines Kind während der kurzen Zeremonie, während Schauer um Schauer durch meinen Körper läuft und ich an jeder Stelle meines Körpers Gänsehaut habe.
Die hat hinterher übrigens auch Wayan Seder auf seinem Arm, als er grinsend wieder alle Energiepunkte auf Lydis und meiner Hand abtastet.
„Nau all open“ meint er und auch seine Wünschelrute, deren beiden beweglichen Stäbchen sich vor dem Prozedere sowohl bei mir als auch bei Lydi noch keinen Millimeter auseinander bewegt haben, klappen jetzt sehr zur Freude des Heilers bei uns beiden weit auf.
Damit das auch so bleibe müssen wir „praktis, praktis, praktis“ und meint damit tägliches Meditieren.
Nicht einmal die Woche, nicht alle zwei Tage, sondern täglich.
Na wenn das so einfach ist, was kann denn da noch schief gehen?
Ich fühle mich für den Moment auf jeden Fall leichter.
Ob das am Kontrollverlust und dem heilsamen Gefühlsausbruch liegt oder tatsächlich an den jetzt wieder offenen Chakren, daran kann sich mein Verstand von mir aus jetzt abarbeiten.
Ich hocke mich jetzt jedenfalls erstmal zu den Vögeln ins Reisfeld.
Ich hab heute schließlich noch nicht meditiert.
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