Ekstatisch tanzen

30. 04. 2022 | Reisen | 0 Kommentare

Puh. Die erste Woche ist geschafft.
Und wie immer habe ich keine Ahnung, wo die Zeit hinverflogen ist.
Ich hab mal irgendwo gelesen, dass für einen Erwachsenen im Gegensatz zu einem Kind die Zeit so schnell vergeht, weil er in Gewohnheiten gefangen ist. Während das Kind fortwährend neues entdeckt und dessen Tage ihm deshalb oft endlos erscheinen. So ganz mag ich dieser Theorie nicht glauben, denn wenn sie stimmen würde, müsste meine Zeit ja grad schneckenlangsam verstreichen.
Tut sie aber nicht.
Und das obwohl ich meinen Vorsatz aus dem vorangegangenen Beitrag befolgt und die Vergangenheit (größtenteils) habe ruhen lassen.
Okay, so ganz stimmt das nicht. Denn gestern waren Lydi und ich beispielweise beim Ecstatic Dance im Yoga Barn. Wer meinen letzten Reise-/Selbstfindungs-/Weisheitsverbreiter-Roman Das Universum ist ein Arschloch verpasst hat, dem sagt das jetzt natürlich nichts. Für diese Banausen und die fünfzehn braven Leser zur Auffrischung: Der Ecstatic Dance im Yoga Barn in Ubud ist ein fancy Happening, ein mittlerweile gar nicht mehr so geheimer Geheimtipp, bei dem jeden Freitagabend die hübschesten Yogis und Yoginis Balis zusammenkommen und knappe zwei Stunden auf stampfende Beats tanzen als gäb’s kein Morgen mehr und bis der Schweiß von der Decke tropft.
Ecstatic ist hier Programm, ich kanns immer noch nur schwer beschreiben, man muss es vermutlich einfach mal erlebt haben. Dank des strikten Foto- und Filmverbots und der schummrigen Beleuchtung tanzt hier tatsächlich jeder so like nobody’s watching.
Das mit den „hübschesten“ ist ebenfalls keine Übertreibung, das hat mich vor sechs Jahren schon fasziniert und tut es heute immer noch. Es ist hier alles so ein bisschen wie der feuchte Tagtraum eines für ein spirituelles, hochpreisiges Livestyle-Magazin arbeitenden Fotografen: Perlender Schweiß auf der braungebrannten Haut yoga-gestählter, internationaler Supermodels beiderlei Geschlechts, die allesamt grade soviel Stoff am Körper tragen, dass sie auf dem Nachhauseweg nicht von der balinesischen Tempelpolizei verhaftet werden. Meine Gedanken sind bei dem europäisch aussehenden Familienvater mit Schnurrbart unter der Brille und Tennissocken und Sandalen an den Füßen, der irgendwann gen Ende des Tanzes in der Lobby mitsamt Kind und Frau (letztere hat sich bestimmt über kommende Yogakurse informieren wollen) aufgeschlagen ist. Und dem buchstäblich die Kinnlade runter geklappt ist, als eine transpirierende Yoga-Nymphe nach der anderen mit klingelnden Fußkettchen die schmale Wendeltreppe zum Tanz im ersten Stock an ihm vorbei geschwebt ist. Seine vergeblichen Versuche, von unten möglichst unauffällig einen Blick nach oben zu erhaschen, haben ihm mein tiefstes Mitgefühl eingebracht.

Aber zurück zum Ecstatic Dance. Der ist ja im Grunde dazu da, um sich im namensgebenden ekstatischen Tanz möglichst selbst zu verlieren und/oder dadurch komplett im Augenblick anzukommen.
Und im Augenblick vergeht keine Zeit, denn da ist es ja immer JETZT.
Damit wäre dann theoretisch das Problem der allzu schnell verstreichenden Zeit souverän gelöst. Theoretisch deshalb, weil da praktisch natürlich gerne allerlei dazwischenkommt beim sich in Ektase tanzen. Wenn man(n) der offensichtlichen Reizüberflutung Herr wird, bedeutet das noch lange keine Entwarnung, denn, um nur ein Beispiel zu nennen, das literweise Schwitzen in einem unklimatisierten, übervollen Raum voller ebenfalls heftig transpirierender Menschen, bei deren Tanzbewegungen der Schweiß in alle Richtungen spritzt, könnte für den ein oder anderen durchaus an den Rand seiner persönlichen hygienischen Komfortzone führen (*hüstel*). Ebenso wie das Aufeinanderprallen unterschiedlichster mentaler Energien, vom introvertierten Mauerblümchen bis hin zum exzessiv antanzenden und Blickkontakt suchenden Durch-den-Saal-Hüpfer ist hier alles vertreten was den eigenen Personal Space umgehend ins Wanken bringen kann.
Andererseits macht genau auch diese Mischung den besonderen Reiz aus.
Das getrennt und dennoch eins sein.
Ying und das Yang.
Das Extro- und das Introvertierte.
Und zu einem bestimmten Zeitpunkt schafft es der DJ eigentlich jedes Mal, die Menge so auf seinen Beat zu polen, dass auf einmal hundert Herzen im selben Takt schlagen. Und das ist dann schon ein geiles Gefühl, während man sich hüpfend und schüttelnd gen Nirvana tranct.
In Indien habe ich mich manchmal in einer sogenannten Dynamic Meditation versucht. Die hat sich Osho ausgedacht und dabei geht im Grunde darum, den bewussten Geist, den ewig plappernden „Monkey Mind“ durch möglichst irrationale und unvorhersehbare Bewegungen zur Kapitulation zu zwingen. In der Regel schüttelt man sich dabei, springt wie ein Irrer herum und brabbelt wirres Zeug vor sich hin. Klappt auch, um das Hirn auszuschalten und in den Moment zu kommen. So ein Ecstatic Dance, idealerweise im Ambiente des Yoga Barn, ist allerdings die bedeutend coolere Variante und man macht sich dabei nicht ganz so sehr zum Affen.

Und wer weder dynamisch meditieren noch ekstatisch tanzen will, für den haben die Balinesen auch was in petto. Ich weiß nicht, ob die Technik einen Namen hat, ich will sie der Einfachheit mal „Sitz’n und Schaun“ nennen.
Beim Sitz’n und Schaun™ geht es darum, irgendwo herumzusitzen und zu schauen.
Ohne bestimmtes Ziel zu schauen.
Irgendwann wird dann der Blick ganz von allein abwesend, man schaut nur noch, ohne was zu sehen.
Die jungen Balinesen haben das entweder ver- oder nie gelernt, denn die schauen gefühlt in jeder freien Minute auf die Displays ihrer Smartphones.
Aber die Alten, die haben das Sitz’n und Schaun™ perfektioniert. Man muss nur mal mit offenen Augen durch einen Ort wie Ubud fahren. Oder besser durch die Vororte und kleinen Dörfer. Da sitzen alte Männer und Frauen einfach nur am Straßenrand, auf Mauervorsprüngen, auf Treppenstufen oder vor Haustüren. Und schauen. Stundenlang. Ich weiß das, weil wir an manchen von ihnen mehrmals täglich vorbeigerollert sind. Die sitzen da den ganzen Tag und schaun. Ohne Fernseher, ohne Buch, ohne Smartphone, ohne irgendeine Ablenkung.
Und alle wirken sie… glücklich.
Nicht jubelnd, freudejauchzend glücklich, sondern eher zufrieden glücklich.
Das finde ich faszinierend.
Ich frage mich, welche Bedeutung Zeit für diese Menschen hat, deren ganzes Leben aus Arbeit bestand, von denen viele in ihrem ganzen Dasein ihr Dorf nie verlassen haben, die vermutlich weder lesen noch schreiben können.
Ob diese greisen Balinesen und Balinesinnen auch das Gefühl haben, dass die Zeit viel zu schnell vergeht, dass sie ihnen durch die Finger rinnt?
Ich vermute, sie SIND viel mehr, ohne die ganze Ablenkung und den Konsum, dem wir so unentrinnbar ausgesetzt scheinen.
Ob sie diesen Zustand nun erreicht haben weil sie keine Mittel und Möglichkeiten haben, sich abzulenken und ob das gar erstrebenswert ist mag ich nicht beurteilen.
Aber ich kenne auch Fälle von Menschen, die im Alter ohne einen Sinn durch Arbeit oder Gebrauchtwerden in Depression und Demenz abgeglitten sind.
Also müssen die Balinesen doch irgendetwas anders gemacht haben, zumindest die Sitzer und Schauer.
Vielleicht mache ich demnächst mal eine Feldstudie und hocke mich zu so einem Sitz’n und Schaun™-Greis dazu.

Irgendwas sagt mir, dass dieser Tag dann für mich alles andere als wie im Flug vergehen würde.

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