Erleuchtet

30. 11. 2016 | Erkenntnisse, Reisen | 0 Kommentare

“Discover yourself, otherwise you have to depend on other people’s opinions who don’t know themselves.”

Osho                               

Aus den Boxen dröhnt das rhythmische Mantra eines Indianer-Gesanges. Es ist brütend heiß im ersten Stock des Yoga Barns in Ubud, obwohl der Raum zu allen Seiten hin offen ist. Doch weder die kühle Brise noch die am Limit kreiselnden Ventilatoren vermögen die Hitze, die von der heißen Sonne über Bali und den etwa 100 Tänzern ausgeht, zu lindern. Ich habe kurz gezögert, als der raunende Sprechgesang eingesetzt hat, doch mein Körper hat schnell einen Rhythmus ausgemacht, in dem ich mich nun grinsend wiege. Immer mehr Leute um mich herum tun es mir gleich, manche stehen nur auf der Stelle und wippen mit dem Kopf, andere hüpfen bereits ekstatisch auf und ab. Es sind vorwiegend Frauen, jeden Alters, die meisten davon jung. Und gutaussehend. Sie tragen knappe Klamotten im Goa-Style, haben Tattoos, Dreadlocks und klirrenden Schmuck an Armen und Fußknöcheln. Eine wunderschöne Inderin, wie frisch aus einem Bollywoodfilm entschlüpft, taucht plötzlich vor mir auf. In Hotpants und durchgeschwitztem, weißen Top, durch das sich ihre Brüste abzeichnen.
Sie tanzt wie in Ekstase.
Ich fühle mich an die legendäre Tanzszene in Zion aus Matrix Reloaded erinnert. Das Mantra geht allmählich in einen satten Beat über und ich kann mich nicht mehr halten, ich muss auch springen, tanzen, es reisst mich mit, um mich herum schwitzende, halbnackte Leiber, manche davon eng ineinander verschlungen, alle mit einem Lachen oder Grinsen im Gesicht. Ich wünsche mir, dass dieser Moment niemals endet.

Seit vielen Jahren dauert meine spirituelle Reise nun schon an. Mich faszinieren die Spielarten dieser Welt und bei den ganzen Büchern, die ich gelesen und den Seminaren, Schamanen und Gurus, die ich besucht habe, war mir bisher noch keine Praktik zu abgefahren und kaum ein Hokuspokus zu verrückt. Mit einem Schamanen einen Ausflug in die Geisterwelt unternehmen? Bin dabei. Meditieren in einem buddhistisches Kloster auf Sri Lanka? Wird ausprobiert. Ein Besuch bei den Hexen und Heilerinnen auf Siquijor? Ist mindestens für eine spannende Geschichte gut.
Wie ich insgeheim schon vermutet hatte, haben mich die Stationen meiner aktuellen Reise von Sri Lanka über Philippinen nach Bali lediglich auf das Grand Finale vorbereitet: Indien.
Und mit Indien kam das Tantra.
Im Tantra fand ich alles vereint, was mich bisher angezogen und fasziniert hat: das Tanzen, das Heilen, die Mystik, die Meditation, das Ausloten, Übertreten und Neuabstecken der eigenen Grenzen.
Auf den Philippinen habe ich eine alte Heilerin getroffen, deren Haus ich eigentlich als Unterschlupf vor einem plötzlich einsetzendem Wolkenbruch aufgesucht hatte. Als ich damals klatschnass und bibbernd vor ihr saß und sie mich aus ihren mit uralten Lachfältchen umringten Augen gütig und verschmitzt anlächelte und fragte, was mir denn fehle, antwortete ich wahrheitsgemäß: ich weiß es nicht.
Und sie nahm meine Antwort überraschend ernst.
Sorgfältig und mehr malend als schreibend notierte sie einen Zauberspruch auf einem Stück Papier, flüsterte zusätzlich ein paar Worte, vielleicht ein Gebet, auf das Blatt, entzündete es und streute die Asche in ein Glas Wasser. Das musste ich dann trinken. Medizin sei das, und sie würde mir helfen, meinte sie und lachte mit einem Schalk in den Augen wie ihn nur sehr alte und weise Frauen haben können. Also trank ich heiliges Aschewasser und versuchte fieberhaft, nicht an alle die Keime und unaussprechlichen Seuchen zu denken, die im Dschungelwasser Siquijors lauerten und auf gutgläubige Touristen wie mich warteten um ihnen eine buchstäblich richtig beschissene Zeit zu bescheren.
Die Magenverstimmung blieb aus, ich kann jedoch nicht leugnen, dass ich seither immer wieder in den Sog einer Reihe von ziemlich beeindruckend aufeinander abgestimmter „Zufälle“ geraten bin.
So habe ich zum Beispiel in Ubud zunächst ein Mädchen getroffen, das mir über ihre Erfahrungen bei einer sogenannten Kakao-Zeremonie erzählt hat. Einhundertprozentiger, natürlicher Kakao in flüssiger Form wirkt auf den Körper ähnlich wie eine psychedelische Droge und hätte in ihrem Fall fast zu einer wilden Orgie geführt (ich hab den Kakao später in Indien ausprobiert. Und, nun ja, das Mädel hat nicht übertrieben…).
Kurz darauf begegnete mir ein anderes Mädchen, dem ich beiläufig von dieser Kakao-Geschichte erzählte, woraufhin sie mir wiederum eröffnete, dass sie vor einiger Zeit „neues“ Tantra praktiziert hätte. Und dann, ja dann schleppte sie mich mit zu meinem ersten Ecstatic Dance im Yoga Barn. Und ich entdeckte für mich, wie befreiend das völlig enthemmte und erwartungsfreie Tanzen rein um des Tanzens willen sein kann. Jeder macht hier was ihm beliebt, keiner urteilt über den anderen, niemand tanzt um anderen zu gefallen.
Naja, fast nicht.
Zumindest wäre das die Idee dahinter und für mich funktionierte sie hervorragend. Zufälligerweise trieb sich auf den Ecstatic Dances im Yoga Barn und der Akasha Villa auch immer die lokale Tantra-Gruppe herum und mich faszinierte wie deren Mitglieder in der Öffentlichkeit miteinander interagierten: lange, herzliche Umarmungen bei jeder Gelegenheit, ein immerzu vertrauensvoll wirkender und intimer Umgang und natürlich nicht zuletzt eine Ansammlung überproportional schöner und glücklich wirkender Menschen, selbst für Bali-Verhältnisse. Und als ich mich im Internet über Tantra-Kurse in Ubud informierte, stieß ich zu Beginn meiner Recherche auf das Osho Tantra Festival in Indien, das natürlich zufällig dann begann, wenn mein Visum für Indonesien auslief und da ich ja eh noch nach Indien wollte…

Doch was hat es denn nun auf sich mit diesem Tantra?
Wilde Orgien, freie Liebe, endlose Orgasmen? Das verbindet man wohl noch am ehesten mit dem mystischen Begriff, so lange man ihn nicht gleich mit dem Kamasutra verwechselt oder mit ihm in einen Topf wirft und mir ging es ehrlich gesagt lange auch nicht anders. Im Kloster auf Sri Lanka habe ich in der Meditation meine sieben Hauptchakren aktiviert, hier in Indien kam mir das schließlich mehr als zu Gute, da das Tantra sich sehr viel mit eben diesen Energiezentren beschäftigt. Und im Grunde dreht sich alles um Energie und wie der Mensch damit umgeht.
Dessen stärkste Kraft ist die Sexualenergie.
Sie wirkt wie eine kräftige Dampfmaschine im Körper und befeuert unser ganzes System. Doch unser „normaler“ Sex ist nur darauf ausgelegt, diese Energie „los“ zu werden indem er sie im Orgasmus aus dem Körper schleudert und verpuffen lässt. Was allerdings nicht viel bringt, da sich der Druck recht schnell wieder aufzubauen neigt und das Spiel von vorne beginnt. Der Mensch sucht sich immer neue Partner und noch ausgefallenere Spielarten, um seinen Druck abzubauen oder verliert gar gleich ganz die Lust am Sex, Menschen die sich in langen Partnerschaften befinden, können oft ein Lied davon singen.
Das Tantra hingegen lehrt, die sexuelle Energie nicht abzugeben, sondern sie zu behalten, zu potenzieren und sie zu verwandeln. Entweder in noch größere Lust, die schließlich in jenen legendären, meditativen oder trance-ähnlichen Orgasmen gipfelt, an deren Ende man sich jedoch nicht ausgelaugt und erschöpft sondern auch noch Tage später erfrischt und kraftvoll fühlt. Oder, und das finde ich mindestens so spannend, man verwandelt die sexuelle Energie in eine kreative.
Was ich bisher als Drang empfunden habe, den es im Sex nach- und abzugeben galt, kann ich nun also als unerschöpfliche Energiequelle nutzen. Zumindest theoretisch. Denn natürlich handelt es sich beim Tantra um eine Meisterschaft, die es wie jede andere erst einmal zu erlernen gilt. Zwei Gefühlszustände haben mich also in Indien zu Beginn übermannt: Traurigkeit ob der Erkenntnis, dass ich Sex mein ganzes Leben „falsch“ praktiziert habe und Erleichterung, Freude und Aufregung darüber, was mich nun zukünftig alles erwarten würde.

Auf dem Festival konnte ich meine Nase dann in allerlei Workshops stecken und mich ausgiebig ausprobieren. Das reichte von verschiedensten Mediationsstilen wie der Dynamic Meditation (man schüttelt sich, schreit, brüllt und prügelt alle aufgestauten Emotionen und seine Wut in ein wehrloses Kissen) über Workshops zu persönlichen und kulturellen Grenzen und Wünschen (und den Mut, sich anderen auch mitzuteilen, die meisten Beziehungen scheitern daran, dass Menschen nicht miteinander reden, und das nicht nur im Bett) bis hin zu tantrischen Massagen (ja, das ist jetzt die Kiste wo man sich gegenseitig und nackt in Ekstase massiert) und frivolem Gruppenkuscheln vor dem Kaminfeuer.
Das mit Abstand faszinierendste für mich war ein Tag, den Männer und Freuen strikt getrennt verbracht haben. In meiner Gruppe entwickelte sich dort eine unglaubliche Dynamik, die nicht zuletzt dem Mix aus verschiedensten Kulturen und dem breitem Altersspektrum zu verdanken war. In einem Ritual erhielten wir Männer hier unsere Männlichkeit zurück. Oder besser gesagt, ich erhielt sie zum ersten Mal, mangels einer entsprechenden Zeremonie, wie manche Völker sie am Ende der Kindheit mit Jungen zelebrieren. Was sich zunächst zugegebenermaßen ziemlich merkwürdig anhört, hat mich tatsächlich tief berührt. Als jemand, der bisher der Meinung war, dass die Welt ohne Männer ein weitaus besserer Ort wäre und der männlichen Kraft sehr skeptisch gegenüber stand, empfand ich das Ritual als überaus heilsam.
Auch hier drehte sich wieder alles um die sexuelle Energie.
Die Geschichte zeigt, dass der, der den Sex kontrolliert, auch das Volk kontrolliert.
Und Religionen und Regierungen betrieben und betreiben einen enormen Aufwand, den Männern bildlich gesprochen die Eier abzuschneiden um sie damit zu Marionetten zu machen. Ein Stier würde niemals für andere in den Krieg ziehen, ein Ochse tut das hingegen ohne sich zu wehren. Ebenso verhält es sich mit uns Männern und in kaum einem anderen Land dieser Erde zeugt sich das so deutlich wie in Indien. Ein erster, wichtiger Schritt ist, die Verbindung mit der eigenen Sexualität zu heilen, sie von den Stigmata der gesellschaftlichen Restriktionen und Verunglimpfung zu befreien und einen respektvollen Umgang mit sich selbst und natürlich dem anderem Geschlecht zu etablieren.

Populär hat das klassische Tantra übrigens der gute alte Osho gemacht, ein Mann, der seiner Zeit weit voraus war und dessen Lehre viel tiefergehender ist, als die zahlreichen Facebook-Memes vermuten lassen. Im Kern predigte der Mann, dass die Welt einzig zu einem besseren Ort werden könne, indem die Menschen beginnen, sich selbst zu lieben und nicht im Aussen nach der Liebe zu suchen. Dann würden sie zu Leuchtfeuern, die automatisch alle um sich herum auch in Brand setzen würden. Deckt sich ganz prima mit meiner eigenen Ansicht und deshalb habe ich, halb aus Neugierde, halb aus Überzeugung an der Sannyas Zeremonie teilgenommen, bei der ich (endlich) meinen Sanskrit-Namen erhalten habe (er lautet Anir, das bedeutet „Krieger des Lichts“).

Was ich auf meiner Reise zu mir selbst bislang gelernt habe ist, dass sich Antworten überall verstecken, auch solche, deren Fragen man sich noch gar nicht gestellt hat. Meistens entdeckt man sie in einem selbst, und ein guter Guru wird einen auch auf diese Tatsache hinweisen. Die Herausforderung besteht lediglich darin, jemanden oder etwas zu finden, von dem man sich auch etwas sagen lässt und dessen Lehre man umzusetzen bereit ist. Denn was nützt es einem, wenn man Vipassana Meditation praktiziert, aber sich partout keine Freude am stundenlangen Stillsitzen einstellen will? In meinem Fall waren die zehn Tage im Kloster auf Sri Lanka zwar eine heilsame und augenöffnende Erfahrung, hernach habe ich es aber nie wieder geschafft, mich auch nur ansatzweise so lange zu verlieren wie es mir in diesem kleinen Bergkloster nahe Kandy gelungen ist. Da kommt mir das (freie) Tanzen, dem ich zum ersten Mal in Ubud auf Bali begegnet bin, schon viel mehr entgegen. Denn in der rhythmischen Bewegung finde ich faszinierenderweise eine unglaublich wirkungsvolle Methode, meinen unermüdlichen Gedankenstrom komplett zum Schweigen zu bringen und mich im Augenblick zu verankern. Wenn mir das allerdings jemand vor zwei Jahren gesagt hätte, dass ich heute halbnackt und schweißglänzend zu treibendem Goa-Trance in Indien bis zur totalen Erschöpfung tanzen oder wildfremde Menschen umarmen und ihnen (und damit mir) meine tiefsten Träume und Wünsche offenbaren würde, ich hätte allenfalls spöttisch eine Augenbraue angehoben und mitleidig gelächelt. Tatsächlich mag ich aber die Veränderung, die ich durchgemacht habe. Mein Schwermut hat sich irgendwo unterwegs aufgelöst, ich bin heute freier, gelöster als ich es je war. Ich urteile nicht mehr unbedacht und bin in der Lage, für alle Lebensumstände Dankbarkeit zu verspüren (und an der Liebe für Moskitos arbeite ich noch).
Allein dafür haben sich all die Abenteuer schon gelohnt.

Ich bin verwirrter und planloser als ich es je in meinem Leben war. Gleichzeitig spüre ich jedoch, dass ich zum ersten Mal in die richtige Richtung unterwegs bin, ohne Weg und Ziel zu kennen, allein geleitet vom Vertrauen, dass alles genau so kommt wie es kommen soll.

Meinen letzten Guru habe ich Indien getroffen. Eine kleine, lebenslustige und weise Tantrameisterin namens Manju, mit einem Herz, so groß, dass die ganze Menschheit mehrfach hineinpassen würde. Ihre Botschaft an die Welt ist so einfach wie erfüllend:

Life does not suck. Mind fucks.

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