Indien

06. 12. 2016 | Reisen | 0 Kommentare

Fate gives all of us three teachers, three friends, three enemies, and three great loves in our lives. But these twelve are always disguised, and we can never know which one is which until we’ve loved them, left them, or fought them.

Gregory David Roberts, Shantaram

Indien. Was soll ich dazu noch schreiben was nicht schon Unzählige vor mir besser, ausführlicher oder gleichsam stümpferhaft in Worte verpackt haben.
Also berichte ich von meiner Motorrad-Tour von Delhi nach Agra.
Zweierlei Dinge sind daran nämlich erzählenswert:
Erstens, ich hatte nie vor das Taj Mahal zu besuchen.
Zweitens: ich bin noch nie zuvor ein richtiges Motorrad gefahren.

Fangen wir mit Zweiteren an, denn treue Mardermolch-Leser erinnern sich vielleicht, dass ich vor gar nicht allzu langer Zeit schon mal behauptet habe, sehr wohl ein richtiges Motorrad gefahren zu sein, und zwar auf den Philippinen. Gut, ganz hat das nicht gestimmt, tatsächlich handelte es sich bei der Maschine damals um eine halbautomatische, was für mich immer noch ein Novum dargestellt hat. Das Motorrad hat mir aber immerhin das Kuppeln erspart.
Darum konnte ich mich bei der alten Royal Enfield dann nicht mehr drücken und so habe ich mir eine halbe Stunde vor Tour-Beginn bei YouTube noch rasch ein paar Fahrschul-Videos angeguckt, ehe ich mich mit diesem urtümlichen Schlachtross mit Rucksack und Manju bepackt in den Straßenverkehr Delhis gestürzt habe, zur Rushhour. Und der indische Verkehr lässt einen zu Normalzeiten schon das Trommelfell platzen und das Gehirn zerfließen.
Im Vergleich zu Südindien ist Nordindien voll.
Und ich meine damit richtig voll.
Fast 10 Millionen Leute wohnen allein in Delhi.
Dank Manju, die ich auf dem Tantra-Festival kennengelernt und bei der ich anschließend ein paar Tage gewohnt habe, hatte ich zuvor die Gelegenheit, die Stadt aus Sicht einer Einheimischen zu erkunden. In manchen Vierteln wie Old Delhi scheinen sich die Menschen regelrecht zu stapeln, sie fließen auf den Straßen über- und durcheinander, schreien, feilschen, betteln, starren, rotzen, spucken, gestikulieren und… hupen. Denn trotz den immerzu verstopften Straßen wälzen sich überall unzählige Autos, Tuk-Tkus und Fahrrad-Rikschas durch die Massen. Und betätigen dabei so herzhaft ihre in allen Missklängen heulenden und jaulenden Tröten (vom sterbenden Esel bis zur Stockente auf Ectassy ist alles dabei), als wären die Dinger mit ihrer Lunge verbunden und zum essentiellen Atmen nötig. Es braucht eine besondere Ruhe um sich hier nicht nach spätestens fünfzehn Minuten den nächsten Tuk-Tuk-Fahrer, der einem mit dem Reifen an den Hinterfuß fährt und dabei kräfteschonend die Hupe einfach durchgehend gedrückt hält obwohl er genau sieht, dass es vor mir keinen Meter weitergeht, aus seiner Blechbüchse zu zerren und ihm ein paar saubere Gnackwatsch’n zu verpassen, während man ihm jedes mal ins Gesicht brüllt: „Für jedes Mal Hupen stirbt ein Baby-Ganesha!“

Trotzdem funktioniert die Stadt. Die Inder, von denen man in der Öffentlichkeit meist nur die Männer sieht, sind es gewöhnt, dass ihnen so wenig persönlicher Platz zur Verfügung steht wie kaum einem anderen Volk dieser Welt. Und deshalb stapeln sie sich in Bahnen, Bussen und Autos, bewegen sich auf den für westliche Augen hektischen und unübersichtlichen Märkten nach einem geheimnisvollen Rhythmus und weichen dabei auch noch gekonnt den unzähligen heiligen Kühen aus, die sich in Indien tatsächlich so gewöhnlich ins Stadtbild integrieren wie daheim bei uns Tauben.
Müll ist allgegenwärtig.
Die Augen drohen zu überreizen wenn sich die schillernden Farben von Häusern und Saris aus dem öligen Smog schälen, der sich an der verfallenen oder heruntergekommenen Architektur festsaugt. Noch mehr als anderswo in Asien scheint alles Neue bereits verrottend hergestellt zu werden und geht sofort nach Fertigstellung in die unvermeidliche Degeneration über. Die Vergänglichkeit lauert nach jedem Schritt. Die Nase pendelt pausenlos zwischen grausamen Gestank nach Verwesung und Latrine und den orgasmischen Düften der Garküchen hin und her. Der Verstand kommt hier nicht mehr mit, niedere Instinkte übernehmen im Gewühl das Ruder und verlieren sich in den Kaskaden des Fremden und Sinnverwirrenden.

Unser erster Zwischenstopp ist Vrindavan, irgendwo im Nirgendwo an einem Highway zwischen Delhi und Agra. Eine Pilgerstätte mit überdurchschnittlich vielen Krishna-Tempeln. Und den dazugehörigen Sängern.
Die Fahrt hierher führte über einen langen, leeren Highway und durch die unangenehm kalte Nacht Nordindiens. Vrindavan ist wie Delhi in klein und noch heruntergekommener.
Affen, Kühe und Hunde streunen durch die engen Straßen. Die Haupt- und gleichzeitig Marktstraße des Orts ist keine fünf Meter breit und doch drängeln sich hier Abends wuselnde Menschenmaßen hindurch. Ich komme in den Genuss zahlloser Leckereien, darunter köstliches Tikki (ein Kartoffelschnitzel mit Linsen in der Mitte, mit Tamarindenchitney und Curry serviert), knuspriges Nan (Teigfladen mit Butter, Knoblauch oder Käsegeschmack) und herzhaftes Dal (eine Art Eintopf aus geschälten Hülsenfrüchten). Und zum Abschluss eine frische Lassi (am besten mit Trinkjoghurt zu vergleichen) und einen heißen Chai.
Der Abend klingt mit der Vorstellung einer Hare-Krishna-Band im Krishna Balaram Temple aus.

Am nächsten Morgen, wir sind mittlerweile zu viert, verteilt auf zwei Motorräder brechen wir noch vor Sonnenaufgang nach Agra auf. Wieder ist es empfindlich kalt und wir müssen uns mehrmals an Feuerstellen am Straßenrand aufwärmen. Gerade so schaffen wir es noch rechtzeitig zum Taj Mahal um das Monument in der Morgensonne funkeln zu sehen.

Aber stopp: ich habe doch eingangs behauptet dass ich dort gar nicht hinwollte?
Stimmt auch. Bis zuletzt dachte ich auch, das Taj Mahal sei nur eine weitere, überbewertete Touristenattraktion. Nun, das ist es auch. Aber dafür eine besonders spektakuläre. Nachdem mir so viele Leute unabhängig voneinander geraten haben, das Ding zu besuchen und sich die Gelegenheit mit der Tour aufgetan hatte habe ich es mir getreu dem Motto meiner Reise anders überlegt und mich spontan umentschieden. Das Taj Mahal wirkt in echt bedeutend eindrucksvoller als auf seinen zahlreichen Bildern. Die schiere Größe des Bauwerks und seine exponierte Lage in mitten eines weitläufigen Parks verleihen ihm eine schimmernde Erhabenheit. Mir war bis dato nicht bewusst, dass es sich beim Taj Mahal nicht um ein hinduistisches Monument, sondern um ein muslimisches Mausoleum handelt. Der wohl ein paar Schritte neben sich stehende Großmogul Sah Jahan ließ es für seine verstorbene Liebe Mumtaz Mahal von 20.000 Arbeitern (denen er gerüchteweise anschließend die Hände abhacken ließ damit sie nie wieder etwas vergleichbares schaffen konnten) innerhalb 17 Jahren errichteten, ehe er vollends überschnappte. Ein Prunkstück aus Verschwendung und Prahlerei. Und heute ist es vor allem eine Gelddruckmaschine. Bereits in aller Herrgottsfrühe haben sich endlose Touristenscharen eingefunden und es werden stündlich mehr. Mit Besinnlichkeit ist hier also nichts mehr, am Ende ist es auch nur ein Stück absurder Geschichte, das sich wie alle anderen Tempel und Monumente überall in Asien entgegen seiner ursprünglichen Intention zur modernen Melkkuh der lokalen Tourismusindustrie entwickelt hat.

Nach über zwei Wochen und damit deutlich länger als geplant verlasse ich Delhi und die Gegend von Haryana und fliege nach Goa.
Und bin plötzlich in einem anderen Land.
Goa hat mit dem nördlichem, ursprünglichen Indien nicht viel gemein, hier ist es grün und warm, die Straßen sind vergleichsweise leer und es liegt weit weniger Müll herum. Goa ist berühmt für seine Badestrände und Aussteiger und tatsächlich sieht man in Orten wie Arambol weit mehr Weiße als Inder herumhocken.
Ich bin keine 30 Minuten angekommen da habe ich schon drei Angebote für alle gängigen Betäubungsmittel erhalten.
Am Strand von Arambol geht gerade die Sonne unter und schiebt sich als blutroter Ball durch die diesige Luft in die entspannte arabische See. Auf der einen Seite hat sich ein Trommelzirkel breit gemacht, auf der anderen Seite hoppelt fröhlich eine Hare-Krishna-Gesangs-Gruppe fähnchenbewehrt durch den Sand.
Dazwischen haben Hippies, Aussteiger und Hängengebliebene einen kleinen Markt errichtet, in dem sie selbstgebastelten Schmuck und Kekse verkaufen oder Handlesen und Massagen anbieten. Darunter mischen sich Einheimische, die mal mehr, mal weniger aufdringlich, Sarongs, gegrillte Maiskolben und Bongos verhökern. Hier sind die meisten Inder Dienstleister der Touristen und entsprechend versaut. Die Chancen, in ein unverfängliches Gespräch verwickelt zu werden, das nicht einen Verkaufsakt zum einseitigen Ziel hat, tendieren gegen Null. Und trotzdem zieht Arambol spirituelle Sinnsucher aus aller Welt an. Sie sagen Dinge wie: „dieser Ort hat einfach eine gute Energy“, tanzen unter dem Banyann Tree oder praktizieren Yoga, Tantra und alles andere was in der spirituellen Szene Heil verspricht und kapseln sich komplett in ihrer kleinen, paradiesisch wirkenden Welt ein.
Je weiter südlich man hingegen landet, desto kommerzieller werden die Strände. Man kann praktisch keinen Fuß auf einen Strand setzen ohne sofort von einem Rudel Schlepper umringt zu werden, das einem eine Strandliege, ein Jetski oder MDMA anbietet. Das Angebot richtet sich vorrangig an russische Gäste, manches Restaurant bietet sogar ausschließlich kyrillische Speisekarten an. Erst wann man sich vom Meer weg etwas weiter ins Hinterland wagt, kommt die Ursprünglichkeit und das Wildschöne der Postkartenmotive zurück.
Dann wirkt Goa wie das romantische Indien unter Palmen.

In Goa war es übrigens besonders schwer, an Bargeld zu kommen. Kurz vor meiner Ankunft in Indien hat dessen Regierung überraschend erklärt, dass 500 und 1000 Rupien-Noten ab sofort nichts mehr wert seien und eingetauscht werden müssen. Offiziell geschah das um der Korruption Herr zu werden. Inoffiziell soll es sich dabei um den Versuch handeln, in Indien eine bargeldlose Gesellschaft zu etablieren. Dafür spräche jedenfalls die vermeintlich stümperhafte Vorbereitung der Aktion, denn drei Wochen später herrscht immer noch Chaos, landesweit sind die meisten Geldautomaten geschlossen und WENN sie geöffnet UND Geld haben, bilden sich davor sofort endlose Schlangen, in denen wartend es einem immer wieder passiert, dass kurz vor dem Ziel jemand die letzten Scheine aus der Maschine zieht. Und wenn man Geld bekommt dann meistens einen 2000er-Schein, den allerdings niemand wechseln kann. Unter der Geldknappheit leiden vor allem die kleinen Leute, die sich kein Kartenlesegerät leisten können und natürlich die Tourismusbranche. Denn den Touristen wird es ebenfalls sauschwer gemacht, an Bargeld zu kommen. Lächerliche Beschränkungen beim Umtausch am Flughafen und besagte endlose Schlangen an den Automaten versauen es den Urlaubern ratzfatz. In Arambol führt das mitunter zu seltsamen Verrenkungen, die alte Währung wird (aus meiner Sicht völlig vernünftig) einfach weiter verwendet, alle möglichen Ersatzwährungen werden akzeptiert oder es wird viel mit Schuld- und Gutscheinen gehandelt.

Der ganze Ort entbehrt mit seinem Kommunen- und Hippie-Flair nicht eines gewissen Charmes, hat aber in meinem Fall den Nachteil, dass ich auf meiner Reise weit schönere Strände gesehen habe (auf Sri Lanka und den Philippinen) und mittlerweile das Überlaufventil am Fass für Esoterik hektisch rot und gelb blinkt. Dazu kommen die unentspannten Einheimischen und das leidige Geldproblem.
Ja, Goa hat es nicht leicht mit mir.

Aber: Auch wenn das letzte Kapitel meiner Indienreise erst noch bevorsteht, ich möchte mit dem Motorrad von Chennai nach Pondicherry, Auroville und zurück fahren, bin ich mir jedoch schon jetzt ziemlich sicher, dass ich nicht das letzte Mal in Indien war. Denn ob der schieren Größe dieses Landes habe ich in dem einem Monat nur einen Bruchteil gesehen.
Und der hat mich, wenngleich nicht verzaubert, dennoch zutiefst fasziniert und berührt.

Incredible India. Wer immer sich diesen Slogan ausgedacht hat, kennt das Land sehr genau…

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